Seit einigen Monaten bin ich auf TikTok unterwegs und bekomme immer wieder Videos von Menschen angezeigt, die über ihre offene Beziehung/Ehe sprechen. Was mich sehr positiv stimmt! Ich finde es schön, dass die monogame Beziehung nicht mehr das einzige Beziehungsmodell in unserer Gesellschaft ist. Denn wir Menschen sind nun mal individuell. Wir passen nicht alle in dasselbe Kleidungsstück hinein ...
Was mich weniger positiv stimmt, ist der Blick in die Kommentare. Der lässt mich jedes Mal aufs Neue fassungslos zurück.
In meiner Bubble sind Menschen tolerant und in der Lage, Dinge, die ihnen selbst missfallen, trotzdem zu akzeptieren. Und ich gehe einen Schritt weiter: Sie können sich in andere Perspektiven hineinversetzen und die Bedürfnisse und unterschiedlichen Betrachtungen nachvollziehen und verstehen.
Die häufigste Bemerkung, die ich von Menschen, in dessen Weltbild eine offene Beziehung nicht hineinpasst, gelesen habe, ist die, dass eine solche Form von Partnerschaft für sie bloß erlaubtes Fremdgehen ist und man dann ja auch eine Freundschaft Plus führen könnte ... Immer spannend, wenn Fremde anderen Fremden die Gefühle absprechen und besser wissen, was sie zu fühlen haben.
Eine Person, die so eine Äußerung getätigt hat, habe ich gefragt, wie ein 3er oder 4er gemeinsam mit dem Partner fremdgehen sein kann. Fremdgehen miteinander? Ist für mich unlogisch. Wie zu erwarten, habe ich keine Antwort erhalten. Eine offene Beziehung bedeutet ja nicht automatisch, dass man nur alleine loszieht und auf Dates geht.
Ich bin zu ungebildet bzw. habe mich dahingehend noch nicht anderweitig informiert, wie es dazu kommen konnte, dass es in unserer Gesellschaft/Kultur so in den Köpfen der Menschen eingebrannt ist, dass Liebe bedeutet, nur mit einem Menschen zusammen zu sein und nur mit einem Menschen Sexualität zu teilen (vermutlich liegt der Ursprung in der Kirche bzw. der Religion). Ein Mensch muss also alle Bedürfnisse abdecken. Oder man muss auf bestimmte Bedürfnisse verzichten. Kompromisse eingehen ... der Liebe wegen. Weil sich das so gehört. Weil das romantisch ist.
Ich selbst könnte aktuell (was weiß ich, wie es in Zukunft aussieht) eine monogame Beziehung führen. Weil ich kaum Bedürfnisse habe bzw. es welche sind, die ich mir selbst erfüllen kann. Darum würde es für mich persönlich (im Moment) funktionieren. Ich bin also absolut nicht gegen monogame Beziehungen.
Durch meine Videos auf YouTube, in denen ich offen über Sexualität spreche, haben mich in den letzten fünf Jahren so viele Nachrichten von Männern erreicht (Frauen schreiben mich eher selten an), die unzufrieden mit dem Sex in ihrer Beziehung sind, weil es noch Erfahrungen gibt, die sie gerne machen möchten, die die Partnerin jedoch ablehnt. Oder die Männer befürchten, ausgelacht oder als verrückt und pervers abgestempelt zu werden.
Ich bin mir sicher, dass es genauso viele Frauen gibt, denen etwas fehlt und die gehemmt sind, darüber zu sprechen.
Und so kommt es dazu, dass Menschen fremdgehen. Sie gehen nicht alle aus mangelnder Liebe fremd, sondern weil ihnen etwas fehlt (das ist trotz Liebe möglich; nicht für jeden ist die Liebe zu einem Menschen die absolute Erfüllung), was ihnen wichtig ist. Was sie wollen. Was sie meinen zu brauchen. Man wählt den unaufrichtigen Weg, aus Angst, den Partner zu verlieren, wenn man die eigenen Bedürfnisse und Wünsche ausspricht. Der jedoch meist wesentlich unangenehmere Konsequenzen zur Folge hat ...
In meinen Augen bedeutet Liebe, einen Menschen zu akzeptieren, wie er ist. Leider ist es so, dass wir uns meist in ein Bild, das wir uns von einer Person machen, verlieben. Da wir alle aber keine starren Gemälde sind und uns von heute auf morgen verändern können, bröckelt diese – in meinen Augen – oberflächliche Liebe mit der Zeit.
Vielen fällt es schwer, zum Beispiel einen Fetisch, der im Laufe der Beziehung offenbart wird, zu akzeptieren. Weil das nicht zu dem Bild passt, welches wir uns von unserem Partner gemacht haben.
Viele wollen halt einen Lebenspartner, der ihrer Vorstellung entspricht. Und wenn dieser davon abweicht, wird die Beziehung beendet. Passt dann einfach nicht mehr.
Darum kann ich nachvollziehen, warum viele Angst haben, über ihre sexuellen Vorlieben und Wünsche offen zu sprechen.
Ich würde mich an dieser Stelle jedoch fragen, ob ich den passenden Menschen an meiner Seite habe. Möchte ich mein Leben mit jemandem teilen, der mich ablehnt und verlässt, weil ich nicht so bin, wie er mich gerne hätte? Mit dem ich nicht über alles sprechen kann?
Ich glaube, so gut wie jeder wünscht sich, bedingungslos geliebt zu werden und so angenommen zu werden, wie man ist.
Natürlich hat jeder seine Werte und auch die können sich mit der Zeit verändern. Wenn man komplett unterschiedliche Werte lebt, kann es natürlich sein, dass man keinen gemeinsamen Nenner mehr findet. Liebe hin oder her.
Aber hier geht es jetzt hauptsächlich um sexuelle/körperliche/emotionale Bedürfnisse.
Ich frage mich, wie die Beziehungen von Menschen verlaufen, die meinen, es wäre erlaubtes Fremdgehen, wenn man Intimität mit anderen teilt.
Verbieten sie sich selbst jegliche Neugier auf neue Erfahrungen? Oder wird die Beziehung beendet, wenn der Partner Bedürfnis XY nicht erfüllen kann?
Warum misst man der Sexualität überhaupt so einen hohen Stellenwert bei? Sex ist Sex und Liebe ist Liebe. Sex und Liebe können auch zusammen kommen. Manche wollen nur das, weil ihnen das rein Körperliche nichts gibt.
Manche machen aus Sex eine große moralische Sache und meinen, sich wegzugeben oder dass sich der eigene Wert mindert, wenn man mit unterschiedlichen Menschen intim wird. Andere wiederum holen sich so Bestätigung ein und pushen ihr Selbstwertgefühl.
Und dann gibt es diejenigen, für die es ein rein körperliches Vergnügen ist. Wie ein Besuch im Freizeitpark oder eine gute Party, auf der man unbefangen Spaß (tanzen, lachen) mit anderen hat; und danach geht jeder wieder nach Hause und hatte eine gute Zeit.
Ich für meinen Teil betrachte das nüchtern und differenziert. Ich selbst habe kein körperliches Bedürfnis, mit anderen intim zu werden. Mir gibt es höchstens emotional etwas. Darum erlebe ich Sex ganz anders als Menschen, die auf körperliche Befriedigung aus sind. Sexualität ist durchaus komplex, wenn man sie näher betrachtet.
Es genügt aber zu wissen, dass man nicht von sich auf andere schließen sollte, weil wir nicht alle gleich ticken.
Obwohl für mich persönlich Sex etwas Emotionales ist und es für mich durchaus was Besonderes sein kann, gehe ich nicht davon aus, dass andere das genauso empfinden. Darum könnte ich den Menschen, den ich liebe, seine sexuellen Bedürfnisse mit einer anderen Person ausleben lassen. Weil für ihn Sex nicht gleich Liebe sein muss. Weil es für ihn rein körperlich sein kann. Und selbst wenn es für ihn auch emotional wäre ... Das, was er mit mir hat, hat er mit mir, und das, was er mit anderen hat, hat er mit anderen. Liebe ist doch ein unendliches Gefühl und nichts, was begrenzt ist und sich aufbraucht.
Und wenn er merkt, dass er mit einer anderen viel glücklicher wäre als mit mir, lasse ich ihn gehen – das passiert täglich in exklusiven, monogamen Beziehungen; das Risiko, verlassen zu werden, besteht immer. Sicherheit ist eine Illusion. Das Bedürfnis nach Sicherheit zieht gerne einen Kontrollzwang mit sich. Was sehr viel Energie kostet und oft eben auch die Beziehung ... Mangelndes Vertrauen kann viel zerstören. Ich bin der Meinung, dass Freiheit viel mehr verbindet als sich aneinander zu klammern.
Wenn ich jemanden aufrichtig liebe, möchte ich, dass er glücklich ist. Und ich erwarte nicht, dass er mich genauso liebt, wie ich ihn. Das ist bedingte Liebe. Die auch ihre Berechtigung hat. Im ersten Moment würde es sicherlich an meinem Ego kratzen, wenn die Entscheidung auf eine andere fallen würde, aber da ich meine Gefühle und Gedanken reflektiere, erkenne ich mittlerweile schnell, wo mein Potential, zu wachsen, liegt. Mein Wert ist eben die bedingungslose Liebe und darum arbeite ich seit Jahren an mir.
Ich habe durch die ganzen romantischen Filme und Bücher auch eine starre Vorstellung davon mit auf den Weg bekommen, wie Liebe bzw. eine Beziehung auszusehen hat.
Mein Leben und meine Erfahrungen haben mir aber gezeigt, dass mich diese starre Vorstellung nicht glücklich macht. Es fühlt sich für mich viel schöner an, Erwartungen abzulegen und einen Menschen anzunehmen, wie er ist. Keinen Besitzanspruch zu haben. Keine Regeln. Der Mensch, den ich liebe, soll sich frei entfalten dürfen und nicht das Gefühl haben, in einem Kasten, der sich Beziehung nennt, festzusitzen. Das möchte ich für mich selbst auch nicht.
Wenn ich Lust habe, mal wieder auf ein Date zu gehen, weil mich das Bedürfnis nach einem Abenteuer, nach etwas Unbekannten packt, dann möchte ich das erleben dürfen, ohne dass mein Partner direkt an meiner Liebe zweifelt. Das eine hat mit dem anderen nämlich nichts zu tun.
Dieses mangelnde Differenzierungsvermögen ist es, was Menschen dazu veranlasst, zu behaupten, eine offene Beziehung sei erlaubtes Fremdgehen.
Weil sie Liebe an Bedingungen knüpfen und meinen, das man bestimmte Bedürfnisse dann nicht mehr haben darf.
Nur, weil man sich dazu entscheidet, sein Leben mit einem Menschen zu verbringen, verpuffen nicht automatisch alle Bedürfnisse und die Lust auf neue Erfahrungen. Das ganze Universum sollte sich nicht um diese eine Person drehen. Wenn es dann nämlich auseinandergeht, hat man ein Problem.
Ich werde mich und mein Leben nicht aufgeben, weil ich weiß, was passiert, wenn man alles an einen einzigen Menschen knüpft und sein ganzes Leben bzw. seine ganze Zukunft von ihm abhängig macht.
Außerdem möchte ich hinterher nichts bereuen. Ich möchte nicht denken "Für ihn habe ich extra auf XY verzichtet".
Keine Kompromisse. Lösungen. Mit denen beide zufrieden sind.
Und als Schlusswort: Wie andere ihre Beziehungen führen, ist nicht unsere Angelegenheit. Wenn für Menschen die romantische Liebe die vollkommene Erfüllung ist und sich alles um diese eine besondere Person dreht, ist das wunderbar. Genauso wunderbar ist es, wenn Paare sich sexuell entfalten, obwohl sie fest zusammen sind. Und ebenso wunderbar ist es, wenn man romantische Gefühle für mehrere Menschen empfindet und mit ihnen sein Leben teilt.
Ich finde es schön, dass wir nach und nach aufwachen und unsere Bedürfnisse bewusst wahrnehmen und anfangen, sie ernst zu nehmen. Es gibt kein vorgefertigtes Beziehungsmodell, nach dem wir alle leben müssen. Wir dürfen es uns so zusammenstellen, wie es für uns passt.
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